Am 25. März ist er 88 Jahre alt geworden. Noch immer gibt Giora Feidman ungefähr 150 Konzerte im Jahr, offenbar besonders gern in Kirchen. Am 12. April 2024 war er in der Finkenkruger Kirche zusammen mit dem Pianisten Vytis Šakūras aus Litauen.
Giora Feidman wird der „König des Klezmer“ genannt, und da liegen seine musikalischen Wurzeln. Er wurde in Argentinien geboren, als Sohn jüdischer Einwanderer aus Bessarabien. Die jiddischen Lieder seiner Mutter waren seine erste Berührung mit Musik „durch eine menschliche Stimme, deren Singen uns beruhigt, uns tröstet, uns fröhlich macht“, sagt er. Doch sein Horizont geht weiter. Später prägen den jungen Musiker die Lieder von Franz Schubert. Feidman wächst in Buenos Aires auf, musiziert mit dem Vater und erhält schon mit 18 Jahren eine Anstellung als Klarinettist am Teatro Colon, der renommiertesten Opernbühne Südamerikas.
1956 zieht es ihn wie viele Juden in den neu gegründeten Staat Israel. Er erhält einen Vertrag mit dem Israel Philharmonic Orchestra, dem er 18 Jahre treu bleibt. Israel ist zu dieser Zeit ein Schmelztiegel der Erfahrungen, Stile und Emotionen, denn es kommen dort Juden aus aller Welt zusammen, die alle ihre kulturellen Prägungen unterschiedlichster Farben, Sprachen, Traditionen und Klän-ge mit sich bringen. Oft bittere Erfahrungen und Verletzungen – und die Hoffnung auf den Neuanfang.
Die einzigartige Musik der osteuropäischen Juden heißt „Klezmer“. Die Klezmorim waren Wandermusiker, die ihre Lieder durch die Lande trugen und in den jüdisch geprägten Städtchen („Schtetl“) aufspielten, insbesondere zu Hochzeitszeremonien, Festessen und zum Tanz. Das Lebensgefühl dieser in Osteuropa heimisch gewordenen Heimatlosen schwankte zwischen Melancholie, Verzweiflung und ausgelassener Freude in unbeschwerten Stunden. Diese widersprüchlichen Stimmungen kommen in der Klezmer-Musik zum Ausdruck. Sie kann mitreißend sein, lustig und lebensfroh, aber auch zu Tränen rühren.
In der Diaspora hat sich diese Musik mit den jeweiligen Stilen der Gastländer vermischt, in Amerika zum Beispiel mit dem Jazz, in Argentinien mit dem Tango. „All diese klanglichen Varianten treffen im jüdischen Staat aufeinander und vermengen sich aufs Neue, auch mit arabischen Elementen. Sie werden zu Liedern eines Volkes, das wieder Volk sein darf, doch seine Identität erst finden muss.“ So ist es auf der Homepage Feidmans zu lesen.
Wir sahen ihn vor gut 10 Jahren in Ueckermünde. Er ist körperlich alt geworden seither. Aber wenn er Klarinette spielt, klingt es wundervoll lebendig und frisch. „Ich nehme meine Klarinette zur Hand, um die Menschen an meinem Inneren teilhaben zu lassen“. Er und der Pianist Vytis Šakūras harmonieren wundervoll miteinander, spielen im musikalischen Dialog.
Dann spricht er, fast nicht zu verstehen. Einer der ersten Sätze handelt von der Freundschaft zwischen Deutschland und Israel. Er lobt den Einsatz der Deutschen, die Juden vor den Nazis versteckt haben. 20 000 Namen seien bekannt von Menschen, die sich daran beteiligt haben. Es seien aber sicher mehr gewesen, vielleicht 50 000. Die Liebe überwinde Hass und Tod, und so habe es zu der historischen Versöhnung zwischen Israel und Deutschland kommen können. Vielleicht muss man gerade jetzt das Tun dieser Minderheit hervorheben, weil diese Erinnerung Hoffnung macht und zeigt, auf wen und worauf es ankommt, wenn die Menschenverachtung, Gewalt, Rassismus und Nationalismus an der Macht sind.
Er weiß, dass sich Menschen nicht so leicht verbinden lassen wie Noten. Aber es geht. So bittet er den Iraner Majid Montazer auf die Bühne, dessen Kompositionen er spielt, und der wohl die Tourneen Feidmans begleitet. „Ich spiele seine Musik, wir reichen uns die Hände, ein Iraner und ein Israeli.
Schalom, Salam!“
Feidmans Auftritte haben immer zwei oder drei Lieder, bei denen das Publikum mitsingen kann. Die Menschen sollen mitgenommen werden in den Kulturen und Völker verbindenden Spirit seiner Musik. Wir haben den Meister im vergangenen Herbst in der Berliner Philharmonie gesehen und gehört. Dort war der Gesang des Publikums etwas zögerlich, fast verhalten. Die Finkenkruger in ihrer Kirche wollten singen und nutzten die Gelegenheit sofort. Der Funke ist übergesprungen. Er fiel wohl auf gut bereitetes Terrain.
Gerd-Henning Gunkel